Eine der literarischen Überraschungen des Jahres war wohl das Erstlingswerk „Der weiße Tiger“ des indischen Schriftstellers Aravind Adiga. Hier lernen wir Indien kennen, wie es sonst nur selten in Büchern vorkommt: Schonungslos ehrlich und trotzdem humorvoll zeigt uns der Autor die Fratze des Landes.
Denn obwohl das Land in den letzten Jahren einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren hat, herrscht dort immer noch extreme soziale Ungerechtigkeit, das strikte Kastenwesen ist immer noch nicht abgeschafft und Dreck und Armut bestimmt das Leben der meisten Menschen jenseits der Bollywood-Träume.
Der junge Balram Halwai, auch „der weiße Tiger“ genannt, wächst in einem armen Dorf in der indischen Provinz auf. Er gehört zu einer der untersten Kasten, der der Zuckerbäcker. Doch, im Vergleich zu den anderen Kindern, ist Balram eine Ausnahme: Er ist der beste in der Schule und fällt auch sonst durch seinen Wortwitz und seine Neugier auf. Trotzdem kann er die Schule nicht zu Ende machen, da er und sein Bruder schon früh die Familie ernähren müssen.
Als Taxifahrer schafft er dann nach einiger Zeit den großen Aufstieg: Er darf als Fahrer für einen der reichsten Männer arbeiten. Durch ihn kommt er schließlich nach Delhi. Hier sieht er dann ganz deutlich zwei Welten aufeinander prallen: Die untersten Kasten, die den höheren dienen und von diesen nur wie Ware behandelt werden. Auf der anderen Seite stehen die Reichen, die dem großen Geld, Macht, Alkohol und Mädchen hinterherjagen.
Balram weiß, dass der einzige Weg aus seiner Kaste zu kommen Mord und Korruption ist, vor denen er dann auch nicht zurückschreckt…
Durch Balrams Augen sehen wir ein Indien zwischen Armut und Reichtum, Tradition und Moderne, Dreck und Hochglanz, ungerechter Arbeit und Luxusleben. In Form eines Briefes in sieben Nächten erfahren wir die Geschichte Balrams, aber auch Indiens. Diesen Brief beginnt er, als er erfährt, dass der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao nach Indien kommt. Ihm schildert er seine Situation und das Leben im heutigen Indien.
Das Schöne an dem Buch ist sein Stil und das enorme Wissen des Autors Aravind Adiga. Adiga entführt uns in die Welt des wahren Indien und lässt vor allem die hässlichen Seiten des Landes nicht aus, aber stets bleibt er wortgewandt, ironisch, manchmal auch sarkastisch, und realitätsnah. Nie hat man das Gefühl, dass er jammert. Er will der Welt Indien zeigen und dies in einer Weise, die auch bei uns im Westen ankommt: Nämlich unterhaltend und amüsant. Man wird über die Situation nicht mit dem erhobenen Zeigefinger unterrichtet, sondern stets leicht, so dass man hinterher um so intensiver ins Grübeln kommt.
Von diesem Mann ist wirklich noch viel zu erwarten! Schon lange nicht mehr so gute, vielschichtige und vielfarbige Literatur in den Händen gehalten!
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