Das Milgram Experiment zeigt eine der dunklen Seiten der Menschheit auf und konnte bislang leider auch noch nicht widerlegt werden. Eine Zusammenfassung des Experiments und was die Resultate über uns aussagen.
1961 startete Stanley Milgram, ein Psychologe an der Yale Universität, ein Experiment zum Verhalten von Menschen gegenüber Autorität, das vieles erklärt, aber weitaus bittere Sichten auf die Menschheit offenbart.
Das Milgram Experiment: Eine Zusammenfassung
Der Teilnehmer wird davon überzeugt, dass es sich um ein Gedächtnisexperiment handelt, wobei der Teilnehmer die Rolle eines Lehrers übernimmt, während ein anderer Teilnehmer die Rolle des Schülers/Lernenden einnimmt.
Aufbau
Dem „Lehrer“ wird dann aufgetragen, dem „Schüler“ Fragen zu stellen. Gleichzeitig wird der Schüler an eine Maschine angeschlossen, die Elektroschocks verteilt. Der Lehrer sieht, wie der Schüler angeschlossen wird, verlässt dann jedoch den Raum und wird zusammen mit einer Aufsichtsperson in einem anderen Raum platziert, von dem aus er den Schüler nicht sehen kann. Sobald der Schüler eine Frage falsch beantwortet, soll der Lehrer von seinem Platz aus als Bestrafung einen Schock verteilen, mit steigender Volt-Zahl, je häufiger die Fragen falsch beantwortet werden. Dem Lehrer wird außerdem gesagt, dass der höchste Schock bis zu 450 Volt reicht, eine Stromstärke, die auch bei gesundem Herzen Auswirkungen haben könnte, was der Testperson jedoch nicht bewusst ist.
Durchführung
Die Schüler waren tatsächlich Schauspieler, der Lehrer bekam bereits aufgenommene Sounddateien zu hören, in denen sich der Schüler nach steigender Voltzahl beschwerte, bat, aufzuhören und sich später nicht mehr meldete.
Das Experiment wurde teilweise um einen Deut extremer gestaltet, indem der Lehrer außerdem erfuhr, dass der Schüler ein Herzproblem habe, was in den Sounddateien auch zur Sprache kam, kurz bevor der Schüler sich nicht mehr meldete. Wenn sich die Lehrer bei der Aufsichtsperson über den Gesundheitszustand des Schülers erkundigten, behauptete diese, die Schocks würden keine nachhaltigen Schäden verursachen.
Äußerte der Lehrer Bedenken zur Aufsichtsperson, antwortete diese, dass der Lehrer dennoch fortfahren müsse, ob das dem Schüler nun gefiel oder nicht, bis er alle Aufgaben richtig gelöst hätte.
Obwohl sich Schüler und Lehrer in einem Vorraum kurz kennen gelernt hatten, wo sie dann in einer scheinbar zufälligen Auslosung in die entsprechenden Gruppen aufgeteilt wurden, gab es keinen direkten Blickkontakt mehr zueinander, während das Experiment ab lief.
Sollte der Lehrer das Experiment anhalten wollen, hatte die Aufsichtsperson vier verbale Anweisungen zu geben:
1. Bitte fahren Sie fort.
2. Das Experiment verlangt, dass Sie fortfahren.
3. Es ist absolut notwendig, dass sie fortfahren.
4. Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weiter machen.
Sollte der Lehrer nach diesen vier Anweisungen immer noch aufhören wollen, würde die Aufsichtsperson das Experiment abbrechen. Fuhr der Lehrer fort, ohne das Experiment 5 mal anzuhalten, würde es beendet, wenn der Schüler 3 Elektroschläge a 450 Volt erhalten hatte.
Das Ergebnis:
Im Vorfeld hatte Milgram Kollegen und andere Professoren der Psychologie gefragt, wie sie sich das Ergebnis vorstellten, die meisten gingen davon aus, dass nur ein kleiner Teil der Lehrer wirklich bis zu 450 Volt an Schlägen verteilen würde.
Tatsächlich waren 65% bereit, bis zu 450 Volt zu gehen, auch wenn dies unter sichtbarem Unwohlsein passierte. Einige Teilnehmer regten sich offensichtlich auf, betätigten die Knöpfe zögerlicher und kürzer und wehrten sich vor allem verbal.
Jeder der Teilnehmer pausierte während des Experiments und stellte es in Frage, manche boten sogar an, das Geld, dass ihnen für die freiwillige Teilnahme gewährt wurde, zurück zu geben.
Dennoch fuhren die meisten fort, sobald die Aufsichtsperson sie dazu gebeten hatte.
Milgram wiederholte die Experimente offiziell in anderen Ländern und inoffiziell an öffentlichen Orten, um sicher zu gehen, dass die Umstände des Tests, die Umgebung und die künstlich erstellte Situation nicht eventuell Einfluss auf die Ergebnisse hatten.
Doch wo immer die Tests durchgeführt wurden, die Ergebnisse blieben gleich, mehr als 2/3 zogen das Experiment durch.
Ein interessantes Nebenergebnis war außerdem, dass von den Teilnehmern, die das Experiment nicht bis zum Ende fortführten, kein einziger verlangte, dass das Experiment generell abgebrochen werden sollte, noch prüften sie, ob der Schüler gesundheitlich in Ordnung war.
Warum führte Milgram das Experiment durch?
Der Holocaust war ein Schock für die gesamte Welt, weil die „zivilisierte“ Menschheit nicht glauben konnte, dass Menschen zu solchen Taten fähig wären. Milgram selbst war fassungslos, wie unschuldige, normale Menschen unter Befehl zu einem Völkermord getrieben werden konnten und wollte sehen, ob es vielleicht einen unterbewussten Drang gab, trotz moralischer Widersprüche Befehle auszuführen.
Warum konnten Menschen, die vorher ein völlig normales Leben führten, die unter denselben moralischen Standpunkten aufgewachsen waren, wie der Rest der Welt, plötzlich zu Dingen fähig sein, die jenseits der Vorstellungskraft lagen?
Analyse des Experiments
Der Mensch – vor allem im erwachsenen Alter – hat anscheinend ein höheres Bedürfnis, Befehle korrekt auszuführen, selbst wenn die eigenen moralischen Standards dagegen sprechen. Genau das ist beispielsweise in Kriegssituationen auch nötig, ein Soldat darf nicht über seine ethischen Ansprüche nachdenken, sondern muss seinen Vorgesetzten gehorchen, die gesamte Ausbildung der Armee zielt darauf hin ab, selbst in der Schule, ja, sogar im Elternhaus wird man zum Gehorsam erzogen und das ist auch in vielen gesellschaftlichen Situationen gut so.
Milgram ging jedoch davon aus, dass das Ausführen ohne echte Gegenwehr vor allem dann der Fall ist, wenn der Vorgesetzte über mehr Expertise verfügt und sich der Ausführende daher auch unter Druck nicht in der Lage sieht, aufgrund seines mangelnden Fachwissens eine korrekte, alternative Entscheidung zu treffen. Er wird sich daher eher unterwerfen und der Gruppe folgen, wenn er nicht genau weiß, wie er sich zu verhalten hat.
Viele Teilnehmer des originalen Experiments gaben beispielsweise währenddessen zu, keine Ahnung von Physik und Stromstärken zu haben, in einem Beispiel eines abgebrochenen Experiments stellte sich der Teilnehmer als Elektriker heraus, er hatte somit ähnlich, wenn nicht sogar bessere Kenntnisse, was das Experiment anging und hatte damit auch die Sicherheit, das Experiment guten Gewissens abzubrechen.
Dies wurde weiter untermauert, als das Experiment nicht mehr an einer Universität, sondern an einem anonymen Recherchezentrum durchgeführt wurde, nur noch knapp 50% führten das Experiment danach bis zum Ende durch, das offizielle Ansehen der Universität hatte also auch ihren Teil daran, dass die Methoden nicht in Frage gestellt wurden.
Dies wird auch als Konformitätstheorie bezeichnet.
Eine leicht gesteigerte Version dieser Theorie ist die, das der Ausführende sich nicht mehr als Individuum betrachtet, sondern nur noch als Werkzeug des Befehlsgebers. Dadurch gibt er alle Entscheidungen und auch moralischen Konsequenzen an den Befehlenden ab und kann so auch Dinge ausführen, die ihm ansonsten widerstreben würden.
In Variationen dieser Experimente konnten diese Ergebnisse noch erweitert werden. So wurde aufgezeigt, dass die Ausführenden sich eher wehren würden, wenn der Befehlende nicht im selben Raum war (etwa, wenn er über Telephon Befehle gab) und/oder wenn das Opfer in Sichtweite war.
Beim ersten Fall versuchten einige Testpersonen sogar, den Befehlenden zu täuschen, indem sie nur vorgaben, die Schocks zu verteilen.
Bei einer Variation, bei der die Testpersonen den Arm des Opfers selbst auf ein angeblich elektrisches Feld pressen mussten, waren nur noch 30%, also weniger als die Hälfte, bereit, das Experiment durchzuführen.
Interessanterweise war das Gruppenverhalten auch eine wichtige Komponente. Milgram untersuchte einmal mit mehreren „Lehrern“ in einem Raum, deren Reaktionen zeigten, dass nur noch 10% das Experiment durchführten, da sie sich gegenseitig in ihrem Widerwillen unterstützen, wenn sich ein Lehrer weigerte.
Andererseits wuchs die Prozentzahl wieder an als Milgram die Kollegen heimlich dazu aufgeforderte, das Experiment bis zum Ende durchzuführen. Ca. 80% ließen sich von ihren Kollegen beeinflussen und verteilten die 450 Volt.
Wieder zeigt sich, dass sich in der Gruppe das Bewusstsein, die Moral der Mehrheit, bzw. der starken Mehrheit anpasst. Selbst, wenn die eigenen Vorstellungen entgegen dieser Moral wirken, das Individuum wird sich eher gegen seine Moral entscheiden, als gegen die Gruppe zu agieren.
Milgram unter Kritik
Interessanterweise waren nicht nur Milgrams Ergebnisse Aufsehen-erregend, sondern auch das Experiment selbst, dass eine Zeit lang unter Beschuss geriet, da es ethisch fragwürdig sei, ahnungslose Testpersonen unter derartig hohen, psychologischen Druck zu setzen (da sie ja glaubten, sie würden wirklich den Schüler schwer verletzten).
Tatsächlich ergaben jedoch spätere Umfragen, dass die meisten Teilnehmer die Erfahrungen des Experiments positiv als Erfahrung nutzen konnten.
Dennoch stellt sich natürlich die Frage, wie sehr die psychologischen Nachwirkungen dessen, was die Testpersonen durchgemacht haben, für das Ergebnis vertretbar sind. Denkt man an Experimente wie Stanford, das leider ein weniger harmloses Ende hatte, ist die Frage sicher berechtigt.
Zu was ist der Mensch unter Befehl fähig?
Das Wissen, wie leicht der Mensch zu grausamen Dingen fähig ist, wenn er den Befehl einer Autorität dazu hat, sollte uns immer dann gewahr werden, wenn wir das Verhalten von Soldaten, Aufsichtspersonen und Gruppen unter harten Regimes verurteilen.
Milgram hat aufgezeigt, dass der Mensch ein Gruppentier ist, genau das hat uns auch so weit gebracht, wenn wir nicht in der Lage wären, anderen zu gehorchen, gäbe es Zivilisationen wie unsere sicher nicht.
Gleichwohl muss man sich ständig bewusst sein, dass jeder Befehl nach seinem Grund hinterfragt werden sollte, auch der Ausführende eine ethische Verantwortung hat, selbst wenn die Befehlsgewalt diese angeblich überschattet.
Und – wir alle können in diesen Situationen landen und so agieren, wie wir es nie von uns erwartet hätten, deshalb ist es leicht, von außen zu behaupten, dass wir nicht zu grausamen Dingen in der Lage wären, wenn wir nicht selbst anstelle der Verurteilten stehen.
Milgrams produzierte Dokumentation „Obedience“ („Gehörigkeit“) dazu kann man hier vollständig sehen.